Obwohl Benjamin primär als Denker des Visuellen betrachtet wird, gibt es alternative Zugangswege zu ihm, die andere sinnliche Wahrnehmungen in seinem Denken betreffen. In den „Denkbildern“, den „Städtebildern“ und den Reisetagebüchern werden Erzählungen von seinen Spaziergängen konfiguriert, die, sowohl in akustischer als auch in formaler Hinsicht, eine besondere Aufmerksamkeit auf den musikalischen Bereich lenken. Dieser Aspekt wird in der Forschung in der Regel vernachlässigt.
Der Vortrag verfolgt das Ziel, anhand des Städtebildes über „Neapel“ die besondere Wahrnehmung des Rhythmischen, das sich mit dem Akustisch-Rezeptiven vermischt, zu untersuchen. Dieser Sachverhalt wird insbesondere durch zwei Dimensionen konfiguriert: Zeit und Raum. Diese sind nicht nur fundamentale Konzepte der Wahrnehmung, sondern auch der eigenen Gestaltung des Rhythmus, den diese annimmt. Zeit, Raum und ihre besondere Bewegung sind, unter diesem akustisch-formalen Doppelaspekt betrachtet, zwei Achsen, die wir in diesem Text durchlaufen werden.
Einerseits lenkt Benjamin in Bezug auf das Musikalische die Aufmerksamkeit auf die besondere Klanglichkeit von Neapel. Die Straßenmusik, die sich über die Straßen erstreckt, verleiht dem Text nicht nur eine Bewegung, sondern auch eine affektive Dimension: „So ist alles Lustige fahrbar: Musik, Spielzeuge, Eis verbreiten sich durch die Straßen“ (GS IV s.311). Die Musik erlangt hier den Charakter eines zeit-räumlichen Mediums. Sie ist nicht nur „Rückstand der letzten [sondern auch] Vorspiel der folgenden Feiertage“ (GS IV s.311). So wirkt sie mit einem Charakter der zeit-räumlichen Porosität. Gleichzeitig scheint die Zeit einen Mobilitätscharakter anzunehmen, sie wird ausgedehnt, locker – „In solchen Winkeln erkennt man kaum, wo noch fortgebaut wird und wo der Verfall schon eingetreten ist“ (GS IV, s. 310 GS IV). Diese Überlegungen zur Musik als mobilem Medium, das Zeitlichkeit übertragen kann, vermischen sich in diesem Text mit dem, was Benjamin in seinen Briefen aus Capri an Scholem eine „Lebensrhythmik“ nennt (GB II). Dieser Begriff wird zu einem Schlüsselbegriff in Bezug auf die soziale Wahrnehmung, da er sich auf die Idee einer bildenden Kadenz von Wiederholung und Differenz, eine Betonung des Hier und Jetzt, stützt. In diesem Sinne bezeichnet die Idee des Rhythmus sowohl eine Konfiguration der Kadenz in Zeit und Raum als auch das panta rei, etwas das fließt oder eine Art des Fließens. Sie fungiert somit als ein organisierendes Medium der Wahrnehmung. Gleichzeitig impliziert die Idee des Rhythmus ein Zusammensein mit anderen. Die Eindrücke der sozio-kulturellen Differenzen zwischen dem deutschen Denker und den Verhältnissen in Italien, die im Text über Neapel präsent sind, beziehen sich vor allem auf ein gemeinsames, kollektives Leben, das in Begriffen einer „Gemeinschaftsrhythmik“ (s.309) beschrieben wird. Gleichzeitig wird die Idee des Rhythmus in enger Beziehung zur Erfahrung des Alltags als ein Schlüsselkonzept vorgestellt, um das Wechselverhältnis zwischen Wahrnehmung und Erkenntnis zu verstehen.
Der Text über Neapel und andere ähnliche Texte können als ein Vorläufer nicht nur der Theorie der Flaneurie, sondern auch, und vor allem, der Analysen des Lebensrhythmus in der Stadt betrachtet werden, die im Passagen-Werk zentral werden. Hier wird Benjamin zwischen dem Rhythmus der Masse und dem des Flaneurs unterscheiden, was von größter Bedeutung ist, um zu erfassen, wie sich die neuen Wahrnehmungserfahrungen konfigurieren. Einige Jahre früher entwirft Benjamin, übrigens auf Capri, in der Vorrede zum Trauerspielbuch sein Konzept einer rhythmischen Struktur der Erkenntnis. Der Vortrag verfolgt das Ziel, Benjamins Reflexionen über die rhythmische Struktur der Wahrnehmung mit denjenigen zur Episteme-Kritik und Erkenntnis zu verbinden, um so einen zentralen Aspekt seines Denkens präziser zu erschließen.
Temporal-Spatial Media: Musical and Rhythmic Perception in Benjamin’s Naples Essay
Although Benjamin is primarily considered a thinker of the visual, there are alternative approaches to him that involve other sensory perceptions in his thought. In the Denkbilder (thought-images), Städtebilder (city images), and travel diaries, narratives of his walks are configured that, both acoustically and formally, draw special attention to the musical realm.The lecture aims to examine the particular perception of rhythm, which blends with the acoustic-receptive, through the city image of “Naples.” This is configured especially through two dimensions: time and space. These are not only fundamental concepts of perception but also key to the shaping of rhythm as it manifests. Time, space, and their particular movement are, under this dual acoustic-formal aspect, two axes that we will explore in this text. On the one hand, in relation to the musical, Benjamin draws attention to the unique soundscape of Naples. The street music that stretches across the streets not only imparts movement to the text but also an affective dimension: “Thus everything joyful is mobile: music, toys, ice cream spread through the streets” (GS IV, p. 311). Here, music takes on the character of a temporal-spatial medium. It is not only the “residue of the last [but also] the prelude to the following holidays” (GS IV, p. 311). Thus, it operates with a character of temporal-spatial porosity. At the same time, time seems to take on a mobile character, becoming extended, loose—”In such corners, one hardly knows where construction is still ongoing and where decay has already set in” (GS IV, p. 310). These reflections on music as a mobile medium, capable of conveying temporality, intermingle in this text with what Benjamin calls in his letters from Capri to Scholem a “life rhythm” (GB II). This term becomes a key concept regarding social perception, as it refers to the idea of a formative cadence of repetition and difference, an emphasis on the here and now. In this sense, the idea of rhythm refers both to a configuration of cadence in time and space and to the panta rei, something that flows or a manner of flowing. Thus, it functions as an organizing medium of perception. At the same time, the idea of rhythm implies a being-together with others. The impressions of socio-cultural differences between the German thinker and the conditions in Italy, present in the text on Naples, primarily refer to a shared, collective life, described in terms of a “communal rhythm” (p. 309). At the same time, the idea of rhythm is presented in close relation to the experience of everyday life as a key concept for understanding the interplay between perception and knowledge.The text on Naples and other similar texts can be seen as precursors not only to the theory of flânerie but also, and especially, to the analyses of the rhythm of life in the city, which would become central in The Arcades Project. Here, Benjamin would distinguish between the rhythm of the crowd and that of the flâneur, a distinction crucial for grasping how new experiences of perception are configured. A few years earlier, on Capri, Benjamin had sketched, in the introduction to The Origin of German Tragic Drama, his concept of a rhythmic structure of knowledge. The lecture seeks to connect Benjamin’s reflections on the rhythmic structure of perception with those on epistemic critique and knowledge, in order to elucidate more precisely this central aspect of his thought.