Eines der wiederkehrenden Anliegen in Walter Benjamins Denken und Schreiben, so lässt sich beobachten, ist die Benennung und Zerschlagung eingewurzelter konventioneller Vorurteile. In kaum einem anderen Text von Benjamin tritt dieses Anliegen so bedeutend hervor wie im Ursprung des deutschen Trauerspiels, in dem die Kritik an verbreiteten Vorurteilen bezüglich der Tragödie und des Tragischen nicht nur einen programmatischen Platz einnimmt, sondern auch eine durchdringende Kraft entfaltet. Im Lichte jüngster Forschungen zur Theoriegeschichte der Tragödie darf indessen auch die umgekehrte Frage nach Benjamins eigenen, durch seinen theoriegeschichtlichen Standort bedingten, Vorurteilen gewagt werden. Der Beitrag verfolgt zwei Ziele: zum einen zu skizzieren, vor welchem theoriegeschichtlichen Hintergrund die Vorurteilskritik in Benjamins Trauerspielbuch erfolgt, und zum anderen herauszustellen, welche problematischen Annahmen darin unhinterfragt bleiben.
Prejudice and Critique of Prejudice in Walter Benjamin‘s Ursprung des deutschen Trauerspiels (1928)
One of the recurring concerns in Walter Benjamin’s thoughts and writings, it can be observed, is the identification and destruction of ingrained conventional prejudices. There is hardly another text of Benjamin’s where this concern figures so significantly as in the Ursprung des deutschen Trauerspiels, in which the critique of common prejudices regarding tragedy and the tragic not only occupies a programmatic place, but also unfolds a pervasive force. In the light of recent research on the history of the theory of tragedy, however, one may also dare raise the opposite question about Benjamin’s own prejudices due to his theoretical-historical location. The paper pursues two aims: for one thing, to outline the theoretical-historical background against which the critique of prejudices in Benjamin’s Trauerspiel book takes place, and for another, to point out some problematic
assumptions which remain unquestioned in it.